BGH II ZR 214/21
Stimmrechtsausschluss eines Mehrheitsgesellschafters im faktischen Konzern bei Interessenkonflikt

29.05.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
28.11.2023
II ZR 214/21
BeckRS 2023, 36533

Leitsatz | BGH II ZR 214/21

  1. Ein herrschendes Unternehmen ist im faktischen Konzern in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft wegen eines Interessenkonflikts vom Stimmrecht ausgeschlossen, wenn über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Organmitglieder der abhängigen Gesellschaft Beschluss gefasst wird und die vorgeworfene Pflichtverletzung auf Veranlassung und zugunsten des herrschenden Unternehmens begangen worden sein soll. (Amtlicher Leitsatz)
  2. Der Stimmrechtsausschluss gilt gleichermaßen, wenn der Beschluss zum Gegenstand hat, das Organ zu bestellen, das die Gesellschaft bei der Anspruchsverfolgung vertreten soll. (Redaktioneller Leitsatz)
  3. Ein Geltendmachungsbeschluss nach § 147 Abs. 1 AktG ist dann hinreichend bestimmt, wenn er im Einzelnen umreißt, worin die Pflichtverletzung und der Tatbeitrag der Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats bestehen soll, gegen die Ersatzansprüche der Gesellschaft geltend gemacht werden sollen. Es kommt nicht darauf an, ob die Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat. (Amtlicher Leitsatz)

Sachverhalt | BGH II ZR 214/21

Die Beklagte ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft. Die L. S.A., ein Unternehmen der L.-Gruppe, das in der Hotellerie und Touristikbranche tätig ist, war der Mehrheitsaktionär der Beklagten mit einem Aktienanteil von 52,16 %. Die Klägerin war die zweitgrößte Aktionärin mit einem Aktienanteil von 33,80 %. Die verbliebenen Aktien befanden sich im Streubesitz. Im Jahr 2015 erwarb die Beklagte von der L.-Gruppe durch ihre Tochtergesellschaften 100 % der Gesellschaftsanteile an der C. S.A. zum Kaufpreis von 34 Mio. Euro. Die Klägerin bezweifelt die Angemessenheit dieses Kaufpreises und ist der Meinung, dass der Mehrheitsaktionärin der Beklagten verdeckt Vermögenswerte der Beklagten zugeflossen seien.

In der Hauptversammlung der Beklagten am 17.07.2015 wurde auf Antrag der Klägerin beschlossen, u.a. Ersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb der C. S.A. gegen die Mehrheitsaktionärin geltend zu machen. Gleichzeitig wurde ein besonderer Vertreter zur Durchsetzung dieser Ansprüche bestellt. In der Hauptversammlung der Beklagten vom 21.07.2016 wurde unter TOP 10 darüber abgestimmt, ob zusätzlich Ersatzansprüche der Beklagten aus diesem Erwerb gegen Mitglieder ihres Aufsichtsrats und Vorstands als Gesamtschuldner geltend gemacht werden sollen und ob hierzu ebenfalls ein besonderer Vertreter bestellt werden soll.
Der Beschlussantrag lautete auszugsweise wie folgt:

„[…] Veranlasst durch die herrschende Mehrheitsaktionärin hat die Gesellschaft durch Tochtergesellschaften […] 100 % der Anteile an der C. S.A. zum Kaufpreis von € 34 Mio. erworben. […] Dadurch wurde der herrschenden Mehrheitsaktionärin auf deren Veranlassung verdeckt Vermögen der Gesellschaft zugewendet. Der Kaufpreis war deutlich überhöht. […]“
Der Beschlussantrag wurde mit den als gültig gezählten Stimmen der Mehrheitsaktionärin abgelehnt.

Die Klägerin begehrt die Nichtigerklärung der Ablehnung des Beschlussantrags zu TOP 10 sowie im Rahmen einer positiven Beschlussfeststellungsklage die Feststellung, dass der Beschluss zu TOP 10 tatsächlich gefasst wurde. Das LG Düsseldorf wies die Klage ab. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht den zu TOP 10 gefassten ablehnenden Beschluss für nichtig erklärt und der Beschlussfeststellungsklage stattgegeben. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die Zurückweisung der Berufung der Klägerin.

 

Entscheidung | BGH II ZR 214/21

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Ausführungen des BerGer. halten rechtlicher Prüfung im Ergebnis stand.

Nach Auffassung des BGH hat das BerGer. zu Recht einen Ausschluss des Stimmrechts der L. S.A. als Mehrheitsaktionärin bei der Abstimmung zu TOP 10 auf der Hauptversammlung der Beklagten vom 21. Juli 2016 über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Organmitglieder der Beklagten und über die Bestellung eines besonderen Vertreters vom Stimmrecht angenommen. Ein herrschendes Unternehmen sei im faktischen Konzern in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft aufgrund eines Interessenkonflikts vom Stimmrecht ausgeschlossen, wenn ein Beschluss über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Organmitglieder der abhängigen Gesellschaft gefasst wird und die behauptete Pflichtverletzung auf Veranlassung und zum Vorteil des herrschenden Unternehmens begangen worden sein soll.

Dies ergebe sich aus dem in § 136 I S. 1 AktG zum Ausdruck kommenden Grundgedanken des Stimmverbots, dass ein Gesellschafter nicht Richter in eigener Sache sein darf.  Ein (Mehrheits-)Aktionär, dessen unmittelbare Inanspruchnahme Gegenstand des Beschlusses ist, könne den dem Ersatzanspruch zugrundeliegenden Sachverhalt nicht unbefangen beurteilen und unterliege daher einem Stimmverbot gem. § 136 Abs. 1 S. 1 AktG. Dies gelte ebenfalls im faktischen Konzern bei der Beschlussfassung über Ersatzansprüche gegen Organe der abhängigen Gesellschaft, wenn Beschlussgegenstand (auch) das Zusammenwirken des Mehrheitsaktionärs mit den Organen der abhängigen Gesellschaft zulasten der Gesellschaft und die Veranlassung zum Abschluss eines für die Gesellschaft nachteiligen Rechtsgeschäfts zu seinen Gunsten ist. Denn der Mehrheitsaktionär, dem vorgeworfen wird, ein für die Gesellschaft nachteiliges Geschäft zu eigenen Gunsten veranlasst zu haben, urteilt bei der Beschlussfassung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen die Organe der abhängigen Gesellschaft aufgrund dieses Sachverhalts auch immer über eine „eigene Sache“ und billigt oder missbilligt damit zugleich ein eigenes (Fehl-)Verhalten.

Demnach liegt ein typisierter Interessenkonflikt zwischen dem Sonderinteresse des Mehrheitsaktionärs und dem Gesellschaftsinteresse an der Durchsetzung von Ersatzansprüchen auch gegen ihre Organe nach den §§ 318, 93, 116 AktG vor.

Der Stimmrechtsausschluss gelte zudem gleichermaßen, wenn es darum geht, das Organ zu bestellen, das die Gesellschaft bei der Verfolgung von Ansprüchen vertreten soll, da von einem betroffenen Gesellschafter nicht erwartet werden könne, dass er einen Prozessvertreter auswählt und bestellt, der die Interessen der Gesellschaft gegen ihn selbst am entschiedensten vertritt.

Abschließend stellte der BGH fest, dass ein Geltendmachungsbeschluss gemäß § 147 Abs. 1 AktG hinreichend bestimmt sei, wenn er im Einzelnen umreißt, worin Pflichtverletzung und Tatbeitrag der Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder bestehen sollen, gegen die die Gesellschaft Ersatzansprüche geltend machen möchte. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Anspruchsverfolgung Aussicht auf Erfolg hat. Die zu § 46 Nr. 8 GmbHG entwickelten Erfordernisse an die Tatsachengrundlage eines Geltendmachungsbeschlusses seien auf § 147 Abs. 1 S. 1 AktG zu übertragen.

Praxishinweis | BGH II ZR 214/21

Ob ein Interessenkonflikt im Rahmen einer Beschlussfassung vorliegt, die zum Ausschluss des Stimmrechts führen, ist eine stark einzelfallabhängige Frage. Der BGH erweitert einen Stimmrechtsausschluss eines Aktionärs aufgrund sinngemäßer Anwendung des § 136 Abs. 1 S. 1 AktG nun jedenfalls hinsichtlich solcher Beschlüsse, die nicht unmittelbar die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen den Aktionär zum Gegenstand haben, aber dieser gleichwohl mittelbar über ein eigenes (Fehl-) Verhalten aus dem gleichen Lebenssachverhalt urteilen würde und dieses dadurch billigt oder missbilligt. Diese Gleichsetzung scheint auch insofern angemessen, dass ein (Mehrheits-)Aktionär seine eigenen Interessen nicht mit den Interessen der Gesellschaft gleichsetzen darf. Mithin eröffnet die Rspr. des BGH die Möglichkeit weiterer Analogien zu § 136 Abs. 1 S. 1 AktG, sofern der Grundgedanke des § 136 Abs. 1 S. 1 AktG („ein Gesellschafter darf nicht Richter in eigener Sache sein“) berührt ist.