OLG Düsseldorf 12 U 59/22
Insolvenz - Grundsätze für positive Fortbestehensprognose bei Start-Ups (u.a.)

14.06.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Düsseldorf
16.08.2023
12 U 59/22
ZIP 2023, 1999

Leitsatz | OLG Düsseldorf 12 U 59/22

  1. Gem. § 18 Abs. 1 Nr. 1 RPflG ist in Verfahren der Insolvenzordnung dem Richter dieses (nur) bis zur Entscheidung über den Eröffnungsantrag unter Einschluss dieser Entscheidung und der Ernennung des Insolvenzverwalters vorbehalten. Verwalterwechsel im laufenden Verfahren, etwa nach § 59 InsO aus wichtigem Grund oder im Wege der Bestellung eines von der Gläubigerversammlung gewählten anderen Insolvenzverwalters gem. § 57 S. 3 InsO, obliegen dem Grundsatz von § 3 Nr. 2 e) RPflG folgend dem Rechtspfleger, denn der Gesetzgeber hat die jeweiligen funktionellen Zuständigkeiten zeitraumbezogen geregelt.
  2. Bei einem Start-Up Unternehmen sind die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof für eine positive Fortbestehensprognose i.S.d. § 19 Abs. 2 S. 1 InsO aufgestellt hat, nicht uneingeschränkt anwendbar (Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 20.07.2021 – I-12 W 7/21 und 17.01.2022 – I-12 W 17/21)
  3. Die Rückwirkung der Zustellung der Klage des Insolvenzverwalters tritt nach § 167 ZPO auch dann ein, wenn – aufgrund eines Verschuldens im gerichtlichen Bereich – nicht die innerhalb der gehemmten Verjährungsfrist eingereichte Klage des Amtsvorgängers, sondern die des zwischenzeitlich bestellten Amtsnachfolgers zugestellt wird, sofern das Anspruchsbegehren identisch ist.
  4. Gegenüber dem Ersatzanspruch des Insolvenzverwalters aus § 64 S. 1 GmbHG a.F. kann sich der Geschäftsführer nicht auf ein Zurückbehaltungsrecht wegen eines Auskunftsanspruchs zur Vorbereitung behaupteter Schadensersatzansprüche aus einer nicht der DSGVO entsprechenden Verarbeitung personenbezogener Daten bei der Verwertung der Insolvenzmasse berufen, da die Ansprüche nicht in einem so engen Zusammenhang stehen, dass die Geltendmachung und Durchsetzung des einen ohne den anderen treuwidrig wäre (Anschluss an Senatsbeschluss vom 22.12.2022 – I-12 U 46/22).

Sachverhalt | OLG Düsseldorf 12 U 59/22

Die Parteien streiten um die Erstattung von Zahlungen, die nach dem geltend gemachten Eintritt der Insolvenzreife der Schuldnerin von ihren kreditorischen Konten vorgenommen worden sind. Der Kläger ist Insolvenzverwalter der Schuldnerin, einem Start-Up-Unternehmen, das ein Online-Portal zum Vertrieb von Gebraucht- und Nutzfahrzeugen etablieren wollte. Die Investitionen der Schuldnerin wurden maßgeblich über befristete Darlehen eines Investors finanziert. Der Kläger verlangt vom Beklagten, der Geschäftsführer der Schuldnerin war, Ersatz für Zahlungen am 04.01.2016 und 25.02.2016 vom kreditorisch geführten Geschäftskonto der Schuldnerin. Die Schuldnerin sei bereits zum 31.12.2015 wegen fehlender Rangrücktrittserklärung des Investors für seine Darlehen oder einer harten Patronatserklärung insolvenzrechtlich überschuldet gewesen. Es bestehe keine positive Fortführungsprognose - für den Bereich von Start-Ups gelten diesbezüglich keine Sonderreglungen. Feste Finanzierungszusagen seitens des Investors über die nächsten Jahre bestanden nicht.

Das AG Duisburg eröffnete am 28.12.2016 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Am 21.02.2022 entließ das AG - Rechtspfleger - Duisburg den bisherigen Insolvenzverwalter und bestellte den Kläger hierzu.

Der Beklagte hält den Kläger für nicht prozessführungsbefugt. Seine Amtseinsetzung durch den Rechtspfleger sei unwirksam.

Die Schuldnerin sei darüber hinaus nicht insolvenzrechtlich überschuldet gewesen, da die Darlehen des Investors wie Eigenkapital gewährt worden und daher nicht als Passivum in der Bilanz zu berücksichtigen seien.
Der Investor sei darüber hinaus bereit gewesen, die Schuldnerin zu finanzieren, solange die Planungen realistisch erschienen. Dies sei jedenfalls bis September 2016 der Fall gewesen. Anlaufverluste auch über mehrere Jahre seien gerade bei Start-Ups üblich.

Letztlich wendet der Beklagte ein, die Klageforderung sei verjährt. Darüber hinaus stünde dem Beklagten ein Zurückbehaltungsrecht aufgrund Art. 15 Abs. 1 Hs. 1, Abs. 3 DSGVO zu.

Die Berufung des Klägers wendet sich gegen das erstinstanzliche Urteil des LG Krefeld, das die Klage für zulässig, aber unbegründet gehalten hat.

Entscheidung | OLG Düsseldorf 12 U 59/22

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Der Kläger ist kraft Amtes prozessführungsbefugt. Die Einsetzung des Klägers als Insolvenzverwalter ist nicht deshalb nichtig, weil diese durch einen Rechtspfleger vorgenommen wurde. Der Rechtspfleger war funktionell zuständig. § 8 Abs. 4 S. 1 RPflG besagt, dass ein von einem Rechtspfleger wahrgenommenes Geschäft unwirksam ist, wenn es ein richterliches Geschäft ist, das ihm weder übertragen wurde, noch übertragen werden kann. Es kommt daher nicht darauf an, ob der Rechtspfleger das Geschäft dem Richter hätte vorlegen müssen. § 18 Abs. 1 Nr. 1 RPflG regelt dazu, dass das Geschäft (nur) bis einschließlich der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der (ersten) Ernennung des Insolvenzverwalters dem Richter vorbehalten ist. Damit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, dass für spätere Wechsel des Insolvenzverwalters der Grundsatz des § 3 Nr. 2e) RPflG gilt. Funktionelle Zuständigkeiten sind also vom Gesetzgeber zeitraumbezogen geregelt worden.

Der Ersatzanspruch des Klägers aus § 80 Abs. 1 InsO, § 64 S. 1 GmbHG aF gegen den Beklagten besteht in der geltend gemachten Höhe. Die Schuldnerin war zum 31.12.2015 überschuldet. Der rechnerischen Überschuldung kommt nach der ständigen BGH-Rechtsprechung indizielle Bedeutung zu. Der Kläger hat einen Jahresabschluss vorgelegt, in dem bereits beträchtliche Fehlbeträge ausgewiesen waren. Stille Reserven hat der Kläger nicht erkannt. Der Beklagte muss nun im Rahmen seiner sekundären Beweislast etwaig vorhandene stille Reserven substantiiert vortragen.

Eine vom Beklagten behauptete harte Patronatserklärung konnte das Gericht nicht erkennen. Der Finanzierungszusage des Investors fehlt es insbesondere an der rechtlich bindenden Verpflichtung dritten Gläubigern gegenüber. Auch bestehen keine qualifizierten Rangrücktrittsvereinbarungen.

Das Gericht erkennt jedoch an, dass die Grundsätze des BGH für positive Fortbestehensprognosen bei Start-Ups nicht uneingeschränkt gelten können. Es liegt in der Natur derartiger Unternehmen, dass diese über die erste Zeit ihres Bestehens nicht ertragsfähig sind und sich über Darlehen finanzieren. Es ist daher auf die Zahlungsfähigkeit des Start-Ups im Prognosezeitraum abzustellen. Im Rahmen des § 19 InsO muss das betreffende Unternehmen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Lage sein, seine im Prognosezeitraum fälligen Zahlungsverpflichtungen zu decken. Erforderlich ist insbesondere eine nachvollziehbare und realistische Finanzplanung - der Beklagte war jedoch entgegen seiner Behauptungen lediglich dazu in der Lage, einen einzigen monatlichen Finanzplan vorzulegen. Eine mittelfristige und nachvollziehbare Finanzplanung stelle das Gericht daher nicht fest.

Die Forderung des Klägers ist auch nicht verjährt. Die Verjährungsfrist für die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche beträgt gem. § 64 S. 4 GmbHG a.F., § 43 Abs. 4 GmbHG fünf Jahre. Sie begann gem. § 200 S. 1 BGB am Tag der jeweiligen Zahlung - jede einzelne Zahlung begründet einen eigenen Anspruch nach § 64 S. 1 GmbHG a.F. Vor Ablauf der Verjährung ist am 21.12.2020 sodann durch Antrag auf Prozesskostenhilfe (des Amtsvorgängers) Hemmung gem. § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB eingetreten. Das Gericht stellt daher eine verbleibende Verjährungsfrist von 14 bzw. 66 Tagen fest.

Die Hemmung der Verjährung endete nicht durch eine zwischenzeitlich erfolgte Zurückweisung des (ersten) Prozesskostenhilfeantrages mit Wirkung zum 21.02.2022, § 204 Abs. 2 S. 1 BGB. Der Amtsvorgänger des Klägers hatte bereits am 18.01.2022 Klage beim LG eingereicht. Diese Klage wurde jedoch vom LG nicht zugestellt. Am 16.03.2022 erhob der Kläger infolgedessen nach erfolgtem Verwalterwechsel in eigenem Namen Klage, die dem Beklagten am selben Tag zugestellt wurde. Gem. § 167 ZPO wirkt die Zustellung auf den 18.01.2022 zurück, sodass bereits am 18.01.2022 erneut Hemmung gem. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB eingetreten ist. Unerheblich dabei ist, dass bei den beiden Klagen Personenverschiedenheit in Gestalt des Klägers vorliegt. Für die Anwendbarkeit des § 167 ZPO müssen eingereichte und zugestellte Klageschrift nicht vollkommen identisch sein. Es genügt, wenn die zugestellte mit der angebrachten Klageschrift im Wesentlichen übereinstimmt, insbesondere sich auf den gleichen Sachverhalt stützt.

Dem Beklagten steht außerdem kein Zurückbehaltungsrecht gem. § 273 Abs. 1 BGB wegen etwaiger Ansprüche aus Art. 15 Abs. 1 Hs. 1, Abs. 3 DSGVO zu. Die Frage, ob der Insolvenzverwalter Verantwortlicher im datenschutzrechtlichen Sinne im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO und daher nach Art. 15 DSGVO auskunftspflichtig ist (diese Frage verneinend: AG Hamburg, Urt. v. 15.11.2021 - 11 C 75/21, str.), lässt das Gericht offen. Jedenfalls liegen die Voraussetzungen des Zurückbehaltungsrechts nach § 273 Abs. 1 BGB nicht vor. Es fehlt an der erforderlichen „Konnexität“ zwischen den Ansprüchen des Klägers aus § 64 S. 4 GmbHG a.F. und etwaigen Auskunftsansprüchen des Beklagten aus Art. 15 DSGVO. Der Anspruch aus § 64 S. 4 GmbHG a.F. soll durch die damit zu erzielende Wiederauffüllung des Gesellschaftsvermögens die Gesellschaftsgläubiger schützen. Es widerspräche diesem Zweck, könne der Anspruch durch den Beklagten mit seinen Auskunftsanspruch blockiert werden. Daher ist die Geltendmachung und Durchsetzung des einen Anspruchs ohne den anderen nicht treuwidrig.

Weitere Zurückbehaltungsrechte bestehen nicht.

Auch die erklärte Hilfsaufrechnung des Beklagten mit einem von ihm behaupteten Schadensersatzanspruch gegen den Insolvenzverwalter scheitert bereits daran, dass der Anspruch aus § 60 InsO weder zu einem Leistungsverweigerungsrecht, noch zu einer Aufrechnungsmöglichkeit gegenüber einem Anspruch der Insolvenzmasse berechtigt, den der Verwalter geltend macht.

Praxishinweis | OLG Düsseldorf 12 U 59/22

Insbesondere bedeutend sind die Ausführungen des OLG hinsichtlich der Fortführungsprognose. Das Gericht erkennt bei Start-Ups eine besondere Finanzierungsrealität und modifiziert dahingehend die Anforderungen an eine positive Fortführungsprognose. Dabei kommt es nicht auf die Selbstfinanzierungskraft des Start-Ups an, sondern vielmehr darauf, ob das betreffende Unternehmen eine nachvollziehbare und realistische Finanzplanung vorweisen kann. Diese muss dafür jedoch laufend aktualisiert und den Investoren vorgelegt werden. Die Finanzierungsbereitschaft der Investoren sollte stets ausreichend dokumentiert werden, ansonsten droht - wie gesehen - eine persönliche Haftung. Rechtlich unverbindliche Finanzierungszusagen (weiche Patronatserklärungen) von Dritten können eine positive Fortführungsprognose dann tragen, wenn die Zusage von der vorgelegten nachvollziehbaren und realistischen Planung abhängig gemacht wird.

Beachtlich ist zudem die Haltung des OLG Düsseldorf hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage bei Insolvenzverwalterwechseln. Der herrschenden Literaturauffassung folgend bejaht das OLG die funktionelle Zuständigkeit des Rechtspflegers für die Bestellung neuer Insolvenzverwalter.