BFH II B 78/23 (AdV)
Aussetzung der Vollziehung einer Grundsteuerwertfeststellung im sog. Bundesmodell

20.06.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BFH
27.05.2024
II B 78/23 (AdV)
juris

Leitsatz | BFH II B 78/23 (AdV)

  1. Die Bewertungsvorschriften der §§ 218 ff. des Bewertungsgesetzes i.d.F. des Grundsteuer-Reformgesetzes vom 26.11.2019 (BGBl I 2019, 1794) sind bei der im Aussetzungsverfahren gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung gebotenen summarischen Prüfung verfassungskonform dahin auszulegen, dass auf der Ebene der Grundsteuerwertfeststellung im Einzelfall der Nachweis eines niedrigeren (gemeinen) Werts erfolgen kann.
  2. Hierfür ist regelmäßig der Nachweis erforderlich, dass der Wert der wirtschaftlichen Einheit den festgestellten Grundsteuerwert derart unterschreitet, dass sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist.

Sachverhalt | BFH II B 78/23 (AdV)

Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks. Im Rahmen der Erklärung zur Feststellung des Grundsteuerwerts gab die Antragstellerin zur Art des Grundstücks an, dass es sich um ein „Einfamilienhaus“ handelt, welches erstmals vor 1949 bezugsfrei gewesen sei und über eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 72 qm verfüge.

Das Finanzamt (FA) stellte den Grundsteuerwert der wirtschaftlichen Einheit auf 91.600 € fest. Dieser Betrag wurde auf Grundlage der §§ 250 Abs. 1 und Abs. 2, 252 S. 1, 230 BewG aus der Summe des kapitalisierten Reinertrags des Grundstücks und des abgezinsten Bodenwerts ermittelt. Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Der Antrag wurde vom FA abgelehnt. Den daraufhin eingelegten Einspruch wies das Finanzamt mit einer Einspruchentscheidung als unbegründet zurück, da der festgestellte Grundsteuerwert und der Grundsteuermessbetrag entsprechend den gesetzlichen Regelungen ermittelt worden seien. Die Bewertung der Grundsteuerzwecke stelle eine typisierte Bewertung dar, die keine individuelle Verkehrswertermittlung in Bezug auf das Objekt erlaube. Aus diesem Grund stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht (FG). Diesen begründete sie hauptsächlich damit, dass seit dem Baujahr des Einfamilienhauses im Jahr 1880 keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden seien. Dementsprechend sei der festgestellte Grundsteuerwert gemessen am Wert des Hauses zu hoch. Das FG hat die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ausgesetzt und die Beschwerde zugelassen. Daraufhin beantragt das FA die Aufhebung des Beschlusses und die Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung. Die Antragstellerin beantragte, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidung | BFH II B 78/23 (AdV)

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

Der Finanzrechtsweg ist nach § 33 Abs. 1 S. 1 FGO eröffnet. Die Feststellung des Grundsteuerwerts betrifft eine Abgabenangelegenheit. Diese unterliegt der Gesetzgebung des Bundes und der Verwaltung der Landesfinanzbehörde, sodass es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handelt. Da sich die Antragstellerin nicht isoliert gegen den Bodenrichtwert als solchen richtet, sondern die Anordnung der Vollziehung des gegen sie ergangenen Wertfeststellungsbescheids begehrt, ist der Bodenrichtwert lediglich als eine Feststellungsgrundlage in dem Wertfeststellungsbescheid enthalten. Somit liegt dem FG bereits in formell-rechtlicher Hinsicht ein in einer Abgabenangelegenheit ergangener Bescheid zugrunde.

Für die Eröffnung des Finanzrechtswegs ist es unerheblich, ob die Einwendungen gegen den Wertfeststellungsbescheid und dessen Feststellungsgrundlagen durchgreifen oder nicht. Für die Zulässigkeit des Rechtswegs ist auch irrelevant, ob und wenn ja welche Einwendungen gegen die vom Gutachterausschuss festgestellten Bodenrichtwerte im finanzgerichtlichen Verfahren erhoben werden können. Dies ist alles allein ein Frage der Begründetheit.

Zudem ist die vorliegende Abgabenangelegenheit von der Gesetzgebund des Bundes umfasst (§ 33 Abs. 1 S. 1 FGO). Für die Grundsteuer steht dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz entsprechend Art. 105 Abs. 2 S. 1 GG zu. Diese ist an keine weiteren Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG geknüpft. Art. 105 Abs. 2 S. 1 GG ist noch vor Inkrafttreten des Grundsteuer-Reformgesetzes eingefügt worden. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, dass sich der Gesetzgeber bei der Begründung des Gesetzentwurfs auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 125a Abs. 2 S. 1 GG berufen hat und dies damit begründete, dass keine Neukonzeption des Grundsteuerrechts beabsichtigt sei und der Gesetzentwurf fortgeltendes Bundesrecht lediglich fortführe.

Der Gesetzgebungskompetenz des Bundes schließlich auch nicht entgegen, dass den Ländern ein Recht zur Abweichungsgesetzgebung eingeräumt wurde, Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 GG. Im vorliegenden Fall hat der Landesgesetzgeber von seiner Abweichungsbefugnis aus Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 GG keinen Gebrauch gemacht, sodass offenbleiben kann, ob § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO einschlägig ist. Da die Regelungen des Kommunalabgabengesetzes nicht für die Festsetzung und Zerlegung des Grundsteuermessbetrags und der dieser vorgelagerten Feststellung des Grundsteuerwerts gelten, liegt die Verwaltungskompetenz gemäß Art. 108 Abs. 2 S. 1 GG bei der Landesbehörde im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO.
Das fehlende Rechtschutzbedürfnis steht der Zulässigkeit nicht entgegen. Der angefochtene Grundsteuerwertbescheid ist zwar erst für die Grundsteuer für das Jahr 2025 von Bedeutung, jedoch können Einwendungen gegen den Grundsteuerwert nur im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen den Grundsteuerwertbescheid geltend gemacht werden. Dies hat den Hintergrund, dass die Vorschriften über die Durchführung der Besteuerung für das Feststellungsverfahren nach § 219 Abs. 1 BewG sinngemäß anzuwenden sind. Da Feststellungsbescheide für andere Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide, Steuerbescheide und Steueranmeldungen bindend sind, kann die Antragstellerin ihre Einwendungen gegen gesonderte Wertfeststellungen nicht in einem Rechtsbehelf gegen den Grundsteuerbescheid als Folgebescheid geltend machen. Sofern über einen Sachverhalt in einem Feststellungsverfahren entschieden worden ist, kann dieser im Folgeverfahren keinen hiervon abweichenden Beurteilungen unterworfen werden.

Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ist außerdem begründet.

Das Gericht der Hauptsache kann die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtsmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen oder die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte darstellen würde. Ernstliche Zweifel bestehen, wenn bei einer summarische Überprüfung des Bescheids gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe erkennbar sind, welche Unsicherheiten in der Beurteilung darstellen.
Vorliegend bestehen einfachrechtliche Zweifel bezüglich der Höhe des festgestellten Grundsteuerwerts. Bei einer verfassungskonformen Auslegung der Bewertungsvorschriften muss für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit bestehen, bei einer Verletzung des Übermaßverbots einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen.

Der Grundsteuerbescheid beruht auf den neu eingefügten §§ 218 ff. BewG. Nachdem das BVerfG die Einheitsbewertung für die Bemessung der Grundsteuer mit Art. 3 Abs. 1 GG als unvereinbar erklärte, war eine Neuregelung der Bewertung notwendig. Nach der Verkündung der Neuregelung darf die rechtswidrige Regelung noch weitere 5 Jahre, längstens aber bis zum 31.12.2024 angewandt werden (Fortgeltungsanordnung).

Aufgrund der Automatisierung und Neubewertung einer Vielzahl von wirtschaftlichen Einheiten auf einen einheitlichen Hauptfeststellungsstichtag enthalten die Neuregelungen des Gesetzgebers viele Typisierungen und Pauschalierungen. Bei der Wahl der Bemessungsgrundlage und der Ausgestaltung der Bewertungsregelungen steht dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Regelungen müssen jedoch den mit der Steuer verfolgten Belastungsgrund erfassen und dabei die Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitäts- und gleichheitsgerecht abbilden. Gerade bei solchen Massenverfahren verfügt der Gesetzgeber über einen hohen Typisierungs- und Pauschalisierungsspielraum.

Bei der Neuregelung der Grundsteuer wurde ausschließlich an das Innehaben von Grundbesitz und die damit verbundene Leistungskraft angeknüpft. Hierbei wurden die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen nicht berücksichtigt, obwohl diese die subjektive Leistungsfähigkeit ausdrücken könnten. Nach der gesetzgeberischen Vorstellung ist der Belastungsgrund somit die Möglichkeit einer ertragsbringenden Nutzung, welche sich im Sollertrag widerspiegelt, und eine objektive Leistungsfähigkeit vermittelt.

Der BFH stellte fest, dass eine Besteuerung, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Übermaßverbot beachtet, grundsätzlich nur dann gewährleistet ist, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert und den Sollertrag mittels einer verkehrswertorientierten Bemessungsgrundlage bestimmt. Soweit sich in Einzelfällen der Wert, der gemäß §§ 218 ff. BewG ermittelt wurde, von dem gemeinen Wert unterscheidet, sind die Ungenauigkeiten aufgrund der typisierenden und pauschalisierenden Wertermittlung des Bewertungsgrundsatzes hinzunehmen. Solche typisierenden Regelungen sind jedoch nur so lange rechtmäßig, wie ein Verstoß gegen das Übermaßverbot durch eine verfassungskonforme Auslegung oder durch eine Billigkeitsmaßnahme verhindern kann. Ein Verstoß gegen das Übermaßverbot liegt insbesondere dann vor, wenn der festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteigt.

Hinsichtlich der verschiedenen typisierenden Bewertungsnormen hat der BFH entschieden, dass bei Ausschluss von Billigkeitsmaßnahmen durch eine verfassungskonforme Auslegung der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts zuzulassen ist, um einen Verstoßes gegen das grundgesetzliche Übermaßverbot zu vermeiden. Dies gilt sofern vom Gesetzgeber kein Nachweis ausdrücklich geregelt wurde.

Sofern die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung besteht, sind die pauschalierenden und typisierenden Bewertungsvorschriften nicht verfassungswidrig. Vielmehr verhindert die Anwendung dieser Vorschrift den Einwand möglicher verfassungswidriger Überbewertungen.

Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind hier im Rahmen der gebotenen und ebenfalls ausreichenden summarischen Prüfung auf das Bewertungsgesetzes zu übertragen. Eine abweichende Wertfeststellung aus Billigkeitsgründen ist nicht vorgesehen. Um eine Übermaßbesteuerung zu vermeiden, ist für den konkreten Einzelfall der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts in verfassungskonformer Auslegung der §§ 218 ff. BewG nicht ausgeschlossen.

Vorliegend wurden von der Antragstellerin konkrete Umstände des Einzelfalls vorgetragen. Diese ermöglichen den erfolgreichen Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts für die gesamte wirtschaftliche Einheit mit der erforderlichen Abweichung zu dem im typisierten Verfahren festgestellten Grundsteuerwert.

Im Rahmen der Ermittlung des Verkehrswerts der gesamten wirtschaftlichen Einheit weist die Antragstellerin auf das erhebliche Alter des Gebäudes, dessen schlechter Instandhaltungszustand und die fehlenden Renovierungen hin. Aus diesen Gründen könne dem Gebäude kein erheblicher Mehrwert beigemessen werden. Die wirtschaftliche Einheit ist lediglich anhand des Bodenwerts gegebenenfalls abzüglich etwaiger Freilegungskosten festzustellen. Aufgrund des Zustands des Gebäudes bestehen auch Zweifel daran, dass die gesetzlich typisierten Mieterträge erzielt werden können. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass der typisierte Reinertrag den tatsächlich erzielten Reinerträgen entspricht. Aufgrund dieser Ausführungen erscheint es bei einer summarischen Prüfung zumindest möglich, dass der nach dem typischen Bewertungsverfahren festgestellte Wert erheblich von dem gemeinen Wert abweicht. Ein Nachweis dieser Abweichung könnte zum Beispiel von einem Sachverständigengutachten nachgewiesen werden.

Dementsprechend bestehen im vorliegenden Fall ernstliche Zweifel an der einfach-rechtlichen Rechtmäßigkeit des Feststellungsbescheids. Somit wurde nicht mehr geprüft, ob die Aussetzung der Vollziehung zudem aufgrund weiterer Zweifel an der Gültigkeit der Bewertungsvorschriften zu gewähren ist. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen das FG ein strukturelles Vollzugsdefizit damit begründet, dass die Gutachterausschüsse keine Berücksichtigung sämtlicher wertbeeinflussenden Grundstücksmerkmale bei der Ermittlung der Bodenrichtwerde gewährleisten.

Zudem ist unerheblich, ob verfassungsrechtliche Zweifel auch hinsichtlich einer gleichheitsgerechten Bewertung bestehen. Dies hat den Hintergrund, dass im typischen Ertragswertverfahren der §§ 252 ff. BewG eine unzureichende Differenzierung nach der Lage der Gebäude und der Größe des Grundstücks erfolgt. Die Antragstellerin rügt vorliegend jedoch keine lage- oder größenbedingt unzutreffende Wertfeststellung, sondern vielmehr die Tatsache, dass ihrem Gebäude kein erheblicher Mehrwert beizumessen sei. Dementsprechend ist für das Aussetzungsverfahren nicht entscheidungserheblich, ob die Nichtberücksichtigung lagebedingter Mietpreisunterschiede zu einer etwaigen Gleichheitswidrigkeit führt. Aufgrund dessen ist es auch unwesentlich, ob die Antragstellerin ein besonderes berechtigtes Interesse an der Gewährung des vorläufigen Rechtschutzes vorweisen kann.

Die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Feststellungsbescheids über die Grundsteuer ist rechtmäßig.

Praxishinweis | BFH II B 78/23 (AdV)

Mit der vorliegenden Entscheidung hat der BFH zwar ein wichtiges Signal gesetzt, zur Verfassungswidrigkeit wurden jedoch keine eindeutigen Aussagen getroffen. Hierzu wäre eine Entscheidung des BVerfG zu begrüßen.  

Nach derzeitigem Stand sind alle, die einen Bewertungsbescheid erhalten haben, dazu verpflichtet die neue Grundsteuer ab 2025 zu zahlen. Dies gilt auch dann, wenn Einspruch eingelegt wurde. Hiervon ausgenommen ist lediglich das Ehepaar, dessen Fall nun vom BFH entschieden wurde.