05.06.2024
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
EuGH
16.05.2024
C-706/22
ZIP 2024, 1257
Keine Nachverhandlungspflicht bei der SE, die bei der Gründung keine Arbeitnehmer hat [ PDF ]
Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer ist dahingehend auszulegen, dass er, wenn eine Holding-SE, die von beteiligten Gesellschaften gegründet wird, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, ohne vorherige Durchführung von Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer eingetragen wird, die spätere Aufnahme solcher Verhandlungen nicht deswegen vorschreibt, weil diese SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Mitgliedstaaten geworden ist.
Das Gericht hatte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf Vorlage des BAG (Beschluss vom 17. Mai 2022 – 1 ABR 37/20) mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in einer SE (kurz: Beteiligungsverfahren) einzuleiten bzw. nachzuholen ist, wenn eine zunächst arbeitnehmerlose SE herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern in einem oder mehreren Mitgliedstaaten wird.
Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war die Gründung einer Holding-SE der Olympus-Gruppe im Jahre 2013 nach britischem Recht. Diese hatte keine Arbeitnehmer, weswegen kein Beteiligungsverfahren stattfand. Die Eintragung der Holding-SE erfolgte in das Register für England und Wales.
Nach der Unternehmensgründung wurde die Holding-SE Alleingesellschafterin einer drittelmitbestimmten deutschen GmbH. Diese GmbH wechselte in die Rechtsform einer KG, woraufhin der Mitbestimmungsstatus entfiel. Die Holding-SE wurde Kommanditistin der KG und Alleingesellschafterin der Komplementärin.
Besagte KG hatte selbst ca. 816 Arbeitnehmer; ihre Tochtergesellschaften hatten über 2.000 Arbeitnehmer in mehreren EU-Mitgliedstaaten. Somit wurde die Holding-SE herrschendes Unternehmen einer EU-weit tätigen Unternehmensgruppe.
Im Kalenderjahr 2017 wurde der Geschäftssitz der Holding-SE nach Deutschland verlegt. Daraufhin beantragte der Konzernbetriebsrat der KG beim ArbG Hamburg die Einleitung des Beteiligungsverfahrens nach §§ 4 ff. SEBG.
Das ArbG Hamburg sowie das LAG Hamburg wiesen den Antrag des Konzernbetriebsrats jedoch ab. DAs BAG beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Der EuGH entschied, dass der Unionsgesetzgeber auf die Aufnahme einer entsprechenden Regelung zur Frage, ob das Verhandlungsverfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in einer SE (kurz: Beteiligungsverfahren) einzuleiten bzw. nachzuholen ist, wenn eine zunächst arbeitnehmerlose SE herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern in einem oder mehreren Mitgliedstaaten wird– unter anderem zugunsten der Stabilität der bereits gegründeten SE – bewusst verzichtet hat.
Die Entscheidung des EuGH bringt Klarheit über die Nachholung des Beteiligungsverfahrens bei bereits gegründeten SEs. Zudem ist sie äußerst relevant für wirtschaftliche Aktivierung arbeitnehmerloser Vorrats-SEs. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen des EuGH zur SE-Richtlinie der h. M. zur Nachholpflicht widersprechen; eine Bestätigung des EuGH zur Nachholpflicht steht aber noch aus (Grau/Rasche, FD-ArbR 2024, 811399).
Der EuGH stützt mit seinem Urteil das Konstrukt der Vorrats-SE, welches in der Literatur bisher stark umstritten war. Ferner deutet der EuGH in seiner Argumentation auf die Möglichkeit einer dauerhaft beteiligungsfreien SE hin und bietet damit zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten für Rechtsanwender zur Optimierung der Unternehmensmitbestimmung (Grau/Rasche, FD-ArbR 2024, 811399).
Die Grenzen zum Rechtsmissbrauch bei Nachholung des Beteiligungsverfahrens sind unersichtlich. Denn es ist unklar ist, wie sich das Meinungsspektrum nach der EuGH-Entscheidung verschieben wird. Außerdem ist fraglich, ob nationale Gerichte ihre Zurückhaltung beim Missbrauchsverbot aufgeben.
In Deutschland herrscht im europäischen Vergleich eine mitbestimmungsfreundliche Sicht, die auch durch die aktuelle Regierung gestärkt und gefördert wird. Folglich wurde das Schlussplädoyer des Generalanwalts, welcher sich eindeutig gegen eine Nachholpflicht positionierte und solche nur in Missbrauchsfällen in Betracht zieht, in der Bundesrepublik eher überrascht aufgenommen (Grau/Rasche, FD-ArbR 2024, 811399). Zu den möglichen Reaktionen auf die Entscheidung gehört deshalb, dass der deutsche Gesetzgeber nationale Missbrauchsvorschriften konkretisiert. Der Koalitionsvertrag der aktuellen Ampelregierung beinhaltet jedenfalls eine Agenda zur Stärkung der Unternehmensmitbestimmung (Grau/Rasche, FD-ArbR 2024, 811399). Abgesehen von Fällen, in denen ihr Missbrauch im Vordergrund steht, sind dem deutschen Gesetzgeber aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts aber zurzeit für all solche Vorhaben die Hände gebunden (Bochmann, FAZ-Einspruch vom 28.05.2024, Der EuGH durchkreuzt Reformpläne der Ampel). Auf Unionsebene hingegen sind weitreichende Änderungen zur Verschärfung der Unternehmensmitbestimmung mangels mitgliedstaatsübergreifenden politischen Willens unwahrscheinlich (Grau/Rasche, FD-ArbR 2024, 811399).